1901 Le Havre - 1985 Paris
Modern | Post War | Contemporary Art
am
05.06.2023,
Los
34
Taxe: € 500.000
Ergebnis: €
594.000
(inkl. Aufgeld)
DUBUFFET, JEAN
1901 Le Havre - 1985 Paris
Titel: "La vie en ville".
Datierung: 1962.
Technik: Gouache, collagiert auf Karton.
Montierung: Auf Leinwand montiert.
Maße: 133 x 91cm.
Bezeichnung: Signiert und datiert unten mittig: J.D. 62. Nochmals signiert, datiert sowie bezeichnet und betitelt verso: EG 14 La vie en ville (gouache) J. Dubuffet aôut 62.
Rahmen/Sockel: Modellrahmen.
Wir danken der Foundation Jean Dubuffet, Paris, für die freundliche, wissenschaftliche Unterstützung.
Provenienz:
- Galerie Claude Bernard, Paris
- Robert Elkon Gallery, New York
- Galerie Di Meo, Paris
- Privatsammlung Deutschland
Ausstellungen:
- Galerie Claude Bernard, Paris 1964/65
Literatur:
- Loreau, Max: Catalogue des travaux de Jean Dubuffet, fascicule XX: L'Hourloupe I, Paris 1966, WVZ.-Nr. 45, Abb.
- Loreau, Max: Dubuffet et le voyage au centre de la perception, Paris 1966, Abb.
- Loreau, Max: Dubuffet: Délits, déportements, lieux de haut jeu, Genf 1971, S. 422, Abb.
- Einer der bedeutendsten französischen Nachkriegs-Künstler, der den Begriff "Art Brut" prägte
- Unser Werk markiert den Beginn der "Hourloupe"-Serie, seine wichtigste Werkphase mit den typischen Puzzle-artigen Figuren
- In der "Hourloupe"-Phase entstehen ab Ende der 1960er Skulpturen, die den Künstler weltberühmt machten
- Höchst aufwändig collagierte Arbeit aus der gesuchtesten Schaffenszeit des Künstlers
- Absolute Museumsqualität
Die Stunde des Wolfes
Alles begann mit einer Telefonzeichnung:
"Oberflächlich betrachtet [.
] waren die Anfänge wieder einmal zufällig. Nach einer häufig erzählten Geschichte machte Dubuffet während eines Telefongesprächs Kritzeleien mit einem roten und einem blauen Kugelschreiber und erkannte dabei die Möglichkeiten einer völligen Neuorientierung." Hier geschah, was sich vielleicht nur unten den Händen, unter den Augen und der Wachsamkeit dieses Malers ereignen konnte: "Der Akt des Kritzelns kann gleichgesetzt werden mit dem Aufbrechen vorbewussten Wissens, wobei der anspruchslose Kugelschreiber mit seinem undifferenzierten, breiten und schwerfälligen Strich Dubuffet sicherlich als Arbeitsgerät zusagte, [.]." (1)
Dies alles prägte den Sommer 1962 - und das Werk "La vie en ville" ist ein absolutes Zeugnis aus diesen Tagen: Auf der Rückseite vermerkte der Künstler den Titel, das Entstehungsjahr und dann sogar den Monat "aôut" = August. 'La vie en ville' (Das Leben in der Stadt) gehört damit in die Geburtsstunde des Aufbruchs in jene neue Welt von Formen und Farben, die der Künstler "Hourloupe" nannte: "Die Stunde des Wolfes". Eine Wortschöpfung, die auch noch etwas ganz anderes bedeuten kann. Aber was? Der Künstler gab nichts preis, sprach von einem "erfundenen Namen kraft der Wirkung seiner Konsonanten." (2)
Und so wuchs, wucherte, ergriff das wie im Nebenhinein entstandene Zufallslineament einer abgewandten Stunde - die Welt: Die "Hourloupe" - Zeichen/Linien fingen ungesehene Wirklichkeiten ein und formulierten sie in einem neuen Alphabet. "Äußerliches Charakteristikum sind die in verschiedene Richtungen und mit verschiedenen Farben in parallelen Strichen gefüllten Zellen, die sich ineinander verzahnen und aus denen sich die Figuren und dann auch die Umgebung aufbauen - struktiv und mit einer drängenden Tendenz zum Auswachsen in große Maßstäbe, zu plastischen Gebilden und gar Architekturen." (3) Schon wenige Wochen später griff das "Hourloupe"- Alphabet mit seinen "zu strenger plakativer Flächigkeit verabsolutierten Zellenmechanismen" (4) weit aus, fasste und umwob den ständigen Wechsel dessen, was in diesem von Lärm durchzogenen Hexenkessel "Stadt" ununterbrochen auf jede Person eindringt. Am 23. Oktober 1962 entstand: "Continuum de ville", (Abb. 1) ein Querformat mit den stattlichen Maßen von 130 x 293 cm und absolutes Meisterwerk Dubuffets. Wie auch in dem hier angebotenen Schwesternstück "La vie en ville" collagiert der Künstler verschiedene Papierbahnen die er vibrierend bemalt. In die geschaffene Szenerie setzt er dann die feiner collagierten, filigran gezeichneten, für ihn typischen "Hourloupe" Figuren. Es ist ihre Geburtsstunde auf den Leinwänden Dubuffets.
Dann wuchs dieses immer weiter sich Ausbreiten noch einmal: "[.] ab 1966 beginnt die Phase der Transponierung des Bildvokabulars in die dritte Dimension in Form von Plastiken und Monumenten, die später bis auf den Sektor der Architektur ausgedehnt werden." (5) Das zeigt eine Skulptur, die der Künstler 1972 schuf: Als weithin sichtbares Zeichen bezeugt die "Gruppe von vier Bäumen" (6) (Abb. 2) auf der Chase Manhattan Plaza in New York diesen Durchbruch in eine neue Dimension: "Die über 12 m hohe Gruppe von vier Bäumen erhebt sich in einer engen Schlucht inmitten von gewaltigen Hochhäusern im Bankzentrum der Wallstreet. In ihr suggerieren die gewundenen Linienimpulse in ihrer plastischen Formung groteske Baumzeichen, die aufgrund der expressiven Gestaltung dem von Kalkül und Logik geprägten Börsenbezirk eine pointierte Welt der Imagination entgegenstellen." (7)
Verwirklichung des Unmöglichen
Dabei blieb es nicht. Von der Telefonzeichnung zum monumentalen Kunstwerk: Ein weiter Weg, auf dem sich "einer wie ein Wahnsinniger für lange Zeit einer Arbeit hingibt, die von vornherein zum Scheitern verurteilt scheint und dann doch gelingt." Letztlich ein "Schock". Jean Dubuffet ging ihn, machte sich "an die Verwirklichung des Unmöglichen" (8), fand immer neue Wege und Ausprägungen der "Hourloupe"-Bildsprache. Vor allem auch in Silkeborg/Dänemark, nahe Aarhus. Als dort ein Museum für den 1973 verstorbenen Maler Asger Jorn (9) gebaut werden sollte, war Jean Dubuffet bereit, die linke Außenwand des Eingangs mit einer großen Fliesenkeramik zu gestalten: 22,5 x 4,5 Meter. (Abb. 3) Ein Freundschaftsdienst. "Im Laufe des Sommers 1977 wurde der Brand der sechshundert Fliesen durchgeführt." (10) Dubuffet signierte sein Präsent - und seit 1982 begrüßt das turbulente "Hourloupe"-Geschehen die Gäste beim Betreten des weitläufigen Geländes.
Franz Meyer, der Schweizer Museumsdirektor und Schwiegersohn Marc Chagalls, hatte schon Jahre zuvor von der "bestürzenden Andersartigkeit des Kunstwerks" bei Dubuffet geschrieben: "Viele haben Dubuffets Arbeiten anfänglich als geistreiche, scherzhaft-listige Provokationen abgetan, [ .] Andere wiederum haben sie als Einfallstor einer neuen Barbarei empfunden oder als gewollten Primitivismus. Hourloupe. Der erfundene Name bezog sich zuerst auf eine kleine Publikation von 1962, in welcher Lebewesen und Gegenstände als Puzzle-Konglomerate vorgeführt werden, die auf Telephon-Zeichnungen zurückgehen. Ihre Parzellen werden jeweils durch verschiedenfarbige und verschieden-gerichtete Parallelstreifen von einander abgehoben. Als diese Puzzle-Figuren dann auch in einer Reihe von Gouachen und später in Bildern auftauchten, gab es Straßenszenen mit "Hourloupe"-Hunden und "Hourloupe"- Passanten, oder die "Hourloupe"-Menschen erschienen in den Alveolen der Häuser. Aus der dynamischen Verschränkung und Verklammerung ergibt sich dann jeweils die Gestalt [ ...]." Schließlich fasst der Kunsthistoriker er klug zusammen: "Und erfährt also unmittelbar die schöpferisch-stimulierende Kraft einer unerhört vitalen künstlerischen Imagination, die uns die Welt auf neue Art zum Erlebnis macht." (11)
"Das Leben in der Stadt"
Jean Dubuffet: Dieser unruhig rebellische Kopf, ging immer wieder - nicht nur hier - unbetretene Wege. Was er aus dem Zufälligen, Beiläufigen, Unerwarteten mitnahm, waren in der Collage/Mischtechnik "La vie en ville" fünf große Figuren, die je vereinzelt aus schraffierten Flächen bestehen; eingefügt - vielleicht auch eingeschnürt - in eine Kulisse aus Straßen voller Unruhe. Kleine Teile, Zellen, die sich zu einem Komplex: mit dem Titel: "Das Leben in der Stadt" addieren. Um sie herum das Gewimmel von Häusern, Straßen und Lärm. Dubuffet wagt den Versuch, die Stadt als akustisches Phänomen zu verstehen. Er verschränkt die Vielzahl dessen, was in ständigem Wechsel auf die Personen eindringt. Eine Kulisse aus Betriebsamkeit, Unruhe, Hektik, Trambahnen und aufgereihten Fenstern. Verbunden ist alles zu Strukturen der Wirklichkeit, die nicht vor Augen liegen, sondern tiefer und verborgen ruhen in den unbetretenen Regionen unserer Welt.
Von der Telefonzeichnung bis zur Gestaltung einer Keramik-Wand von nahezu 100 Quadratmetern: Jean Dubuffet vertraute dem "Zu-Fall" und dem immer neuen Ereignis "Hourloupe" mehr als der tüftelnden Richtigkeit. Abseits der genehmigten Wege war er auf der Suche nach den unbekannten Formen jener Wirklichkeit, die größer ist als der Augenblick. (Prof. Dr. Dr. Gerd Presler)
(1) Thomas M. Messer, in: Jean Dubuffet 1901 - 1985, Frankfurt 1990, S.162
(2) Definition des Künstlers anläßlich der Einweihung der 'Groupe de quatre arbres' in New York am 24. 10. 1972.
(3) Dieter Koepplin, Jean Dubuffet, Zeichnungen, Aquarelle, Gouachen, Collagen, Kunstmuseum Basel 1970, Katalog Nr. 117
(4) Andreas Franzke, L'Hourloupe und die neuen Werke Jean Dubuffets, in: Jean Dubuffet, WERKE 1963-1976, Karlsruhe 1977, S.42
(5) Andreas Franzke, L'Hourloupe und die neuen Werke Jean Dubuffets, in: Jean Dubuffet, WERKE 1963 - 1976, Karlsruhe 1977, S.14f.
(6) Abbildung in: 1. Jean Dubuffet, WERKE !963 - 1976, Karlsruhe 1977, S.33; 2. Dubuffet retrospektive, Berlin, Wien, Köln 1980/81, S.256
(7) Andreas Franzke, L'Hourloupe und die neuen Werke Jean Dubuffets, in: Jean Dubuffet, WERKE 1963 - 1976, Karlsruhe 1977, S.34
(8) Asger Jorn über Jean Dubuffet, 1961. Siehe: Troels Andersen, Asger Jorn 1914 - 1973, Köln 2001, S.262
(9) Asger Jorn (1914-1973) und Jean Dubuffet waren eng befreundet. 1961 gaben sie eine Schallplatte heraus mit gemeinsamen 'Klangbildern'.
(10) Troels Andersen, Silkeborg Kunstmuseums Historie 1940-2005, Anagram 2008, S.85
(11) Franz Meyer, Jean Dubuffet, Zur Ausstellung, In: Zeichnungen, Aquarelle, Gouachen, Collagen, Basel 1970
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Robert van den Valentyn
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