1807 Erfurt - 1878 Venedig
Alte Kunst
am
14.11.2014,
Los
523
Taxe: € 33.000
Ergebnis: €
45.150
(inkl. Aufgeld)
Nerly, Friedrich
1807 Erfurt - 1878 Venedig
Palazzo Pisani. Einzug einer abendlichen Festgesellschaft in den Palazzo Pisani zu Venedig, Nerlys Wohnadresse und Atelier. Öl auf Leinwand. 74 x 66,5cm. Signiert rechts auf dem Weinkühler: Venezia. Nerly. Rahmen.
Rückseitig:
Auf der Leinwand alt bezeichnet: "Palazzo Pisani. Nehrlich genant Nerly in Venedig."
Gutachten:
Dr. Wolfram Morath-Vogel, Erfurt September 2007.
Dr. Wolfram Morath-Vogel schreibt:
"Das erst kürzlich aus Thüringer Privatbesitz aufgetauchte, in der bisherigen Fachliteratur zu Nerly unbekannte Gemälde ist ein vorder- und rückseitig zweifelsfrei eigenhändig signiertes Werk des gebürtigen Erfurters und venezianischen Spätromantikers Friedrich Nerly (eigentlich: Nehrlich), das nicht nur hinsichtlich seiner koloristisch und luminaristisch anspruchsvollen Konzeption, sondern auch im Hinblick auf die dargestellte Örtlichkeit sowie der Provenienz besonderes Interesse verdient. Der Vorbesitzer hat es eigenen Angaben zufolge zu DDR-Zeiten direkt von den Nachfahren der Erfurter Verwandten des Malers erworben.
Die Darstellung zeigt nicht, wie man auf den ersten Blick vermuten möchte, den straßenseitigen Eingang, vielmehr hat Nerly mit nur leichten Veränderungen die bis heute bestehende bauliche Situation im Innenhof des am Campo S.
Stefano gelegenen, im 17. Jahrhundert errichteten Palazzo Pisani zum Motiv genommen. Selbst die Verwerfungen im Paviment auf dem instabilen Boden Venedigs entsprechen der realen Situation. Nerly war mit der Besonderheit des Gebäudes, das heute Sitz des "Conservatorio di Musica Benedetto Marcello" ist, bestens vertraut. Hier wohnte er vier Jahrzehnte lang mit seiner Familie und hier hatte er das zuvor von dem bekannten Schweizer Maler Louis Léopold Robert (1794 -1835) genutzte Atelier wenige Jahre nach dessen Freitod übernommen. (Die mutmaßliche Liebesaffäre Roberts verschaffte dem Atelier im Palazzo Pisani eine touristische Prominenz, über die sich Nerly wegen der für ihn damit verbundenen Arbeitsunterbrechungen in seinen Aufzeichnungen mit Verdruß geäußert hat.)
Wir sehen einen dorischen Säulenportikus vor der mit einem weit geöffneten, doppelflügeligen Torgitter versehenen, von innen erleuchteten Haupttreppe zum piano nobile des Palastes. Während die ersten festlich gekleideten Gäste, gefolgt von einem schwarzen Diener, sich schon einfinden, ist die hauseigene Dienerschaft noch damit befaßt, von der Zisterne im Hof frisches Wasser in ein Kühlgefäß zu schöpfen.
Die architektonische Situation hat Nerly geistreich kompliziert: Zur Linken zeigt er in beabsichtigter perspektivischer Verschiebung einen tatsächlich so nicht vorhandenen Ausblick zum Canal Grande, um den festlichen Moment mit dem Eindruck stadträumlicher Weite zu verbinden. (Hinter dem Säulenportikus ist der tatsächliche Hof baulich nach links geschlossen, der schmale Rio mit Durchblick zum Canal Grande befindet sich links außerhalb des gewählten Bildausschnitts, dessen genaue Übernahme ohne Nerlys motivischen Eingriff einen Eindruck dunkler Enge erzeugt haben würde). Zwei Bewegungsrichtungen - die zum Haupteingang führende entlang der fast bildparallel gestellten Kolonnade und die Schrägansicht der Fassade mit Durchblick zum Canal Grande - durchkreuzen einander, wodurch der mondäne Treffpunkt als solcher unmittelbar anschauliche Evidenz gewinnt.
Vom Scheitelpunkt des rundbogigen Palasteingangs blickt ein bis heute erhaltenes Maskeron auf die nahende Festgesellschaft, über der wegen des besonderen Anlasses eine mit goldenen Fransen und Troddeln versehene Prunkfahne zwischen den mächtigen Säulen vom oberen Bildrand herabhängt. Auf der in volltönigem Karminrot gehaltenen Fahne sehen wir ein schildförmiges Wappen, das einen steigenden Löwen zeigt. Das tiefe Karmin der im Schatten hängenden Fahne korrespondiert in geistvoller Zuspitzung mit dem von der Eingangsbeleuchtung beschienenen Zinnober des sich verbeugenden, mit Federhut geschmückten Kavaliers; seine Gewandfarbe vermittelt zwischen dem Fahnenrot und dem Gelb des erleuchteten Eingangs, das zusammen mit den beiden Varianten des Rot die stärkste farbige Akzentsetzung bildet. Beide Primärfarben, mit denen das türkisene Blau des abendlichen Himmels sich zur ideellen Totalität des Farbenkreises ergänzt, stehen aber keineswegs isoliert in der farbigen Gesamterscheinung des Bildes. Nerly sieht die Möglichkeiten der "potenziellen Farbe" (Theodor Hetzer) in den grauen und braunen Tönen der Architektur, in deren farbiger Latenz sich die ausdrücklichen Buntfarben wiederfinden - besonders schön am Architrav über den beiden Säulen, die den hell leuchtenden Eingang optisch einrahmen.
Das eigentliche Hauptmotiv des Bildes ist zweifellos die einladend erleuchtete Treppe zum Palast - sie wird von Nerly inszeniert ähnlich den erleuchteten Chören, wie wir sie von den Kircheninterieurs der Architekturmalerei, etwa von Nerlys deutschen, ebenfalls in Italien arbeitenden Zeitgenossen Eduard Gerhardt und Max Hauschild kennen.
Auch mit luminaristischen Reizen hat Nerly nicht gespart. Das sinkende Tageslicht verbindet sich mit der künstlichen Lichtquelle aus dem Inneren des Palazzo zum Mischlicht; im Wechsel des chiaroscuro stehen die drei bildparallel komponierten Säulenschäfte im Gegenlicht, während die räumlich entferntere vierte Säule von der Helligkeit der Treppenhausbeleuchtung widerstrahlt und dabei eine zarte Schattenzeichnung des durchbrochenen Torgitters wiedergibt.
Betrachtet man die Kleidung der Figuren genauer, dann muß wohl eher von einem nostalgischen Kostümball als von einer zeitgenössischen Veranstaltung gesprochen werden. Wieweit hier eine konkrete Anspielung beabsichtigt war, läßt sich im Vorfeld der Sichtung und Edition von Nerlys umfangreichem Briefwechsel nicht mit Sicherheit klären.
Als sicher darf jedoch angenommen werden, daß das relativ kleine, dabei erstaunlich monumentale Bild für einen privaten Zweck entstanden ist. Nerlys "Palazzo Pisani" zählt zu seinen 'autobiographischen' Bildern: auch formal steht es seinem berühmten, schon zu Lebzeiten durch Reproduktionen verbreiteten Bild des Caffè Florian in Venedig nahe, das nicht nur das öffentliche Leben im Schatten der Prokuratien einfängt, sondern in anekdotischer Erinnerung den jungen Maler und bald berühmten Stammgast zeigt, wie er zum ersten Mal seiner späteren Frau Agathe Alginovich, der Adoptivtochter des reichen Marchese Maruzzi, begegnet (versteigert bei Sotheby's Amsterdam, 15.04.2003, Lot 89).
Auch das vorliegende Bild dürfte in familiärem Kontext zu sehen sein, worauf die von Nerly selbst angebrachte, rückseitige Beschriftung einen deutlichen Hinweis gibt. Nerly, der von 1837 bis zu seinem Tode 1878 in Venedig ansässig war, ist zweimal (1850 und 1862) nach Deutschland zurückgekehrt, wo er auch die nächsten Verwandten in seiner Heimatstadt Erfurt besuchte. Die so beeindruckende wie einladende Darstellung des Eingangs zu Nerlys Wohnung dürfte gelegentlich seines Besuchs in Erfurt der Familie Nehrlich von ihm zum Geschenk gemacht worden sein, bei deren Nachfahren das Bild bis in die 1960er Jahre verblieb. Die Erfurter Nehrlichs konnten sich anhand des Bildes die gehobene Wohn- und Lebenssituation des in der Fremde zu Ruhm Gekommenen genauer vorstellen. Da Nerlys Künstlername nicht der Familienname war, hat er den Familienzusammenhang durch die eigenhändige Beschriftung bekräftigt: Friedrich Nehrlich genant Nerly in Venedig.
Auch vor diesem Hintergrund ist das Bild, von dem bis jetzt keine der sonst bei Nerly häufigen Varianten bekanntgeworden sind, als Ausnahmestück im umfangreichen Schaffen Nerlys zu betrachten."
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